Europa
- Wikipedia: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi
- R. N. Coudenhove-Kalergi: Praktischer Idealismus
Wo ist der freie europäische Geistesadel, der die Menscheitsideale predigt? Hier einige Auszüge aus Coudenhove-Kalergi’s “Praktischer Idealismus” von 1920:
Gentleman – Bohémien
Blut- und Geistesadel Europas schufen sich ihre spezifischen Typen: Englands Blutadel den Gentleman; Frankreichs Geistesadel den Bohémien.
Gentleman und Bohémien begegnen sich im Bestreben, der öden Häßlichkeit spießbürgerlichen Daseins zu entfliehen: der Gentleman überwindet sie durch Stil, der Bohémiene durch Temperament.
Der Gentleman setzt der Formlosigkeit des Lebens Form – der Bohémien der Farblosigkeit des Lebens Farbe entgegen.
Der Gentleman bringt in die Unordnung menschlicher Beziehungen Ordnung – der Bohémien in deren Unfreiheit Freiheit.
Die Schönheit des Gentleman-Ideals beruht auf Form, Stil, Harmonie: sie ist statisch, klassisch, apollinisch.
Die Schönheit des Bohémien-Ideals beruht auf Temperament, Freiheit, Vitalität: sie ist dynamisch, romantisch, dionysisch.
Der Gentleman idealisiert und stilisiert seinen Reichtum – der Bohémien idealisiert und stilisiert seine Armut.
Der Gentleman ist auf Tradition gestellt, der Bohémien auf Protest: das Wesen des Gentleman ist konservativ-das Wesen des Bohémien revolutionär.
Mutter des Gentleman-Ideales ist England, das konservativste Land Europas. Wiege der Bohémeist Frankreich, das revolutionärste Land Europas.
Im kaiserlichen Deutschland fehlte diese Atmosphäre zur Persönlichheitskristallisation: daher konnte es kein ebenbürtiges Ideal entwickeln. Zum Gentleman fehlte dem Deutschen der Stil, zum Bohémien das Temperament, zu beiden Grazie und Geschmeidigkeit.
Da er in seiner Wirklichkeit keine ihm angemessene Lebensform fand, suchte der Deutsche in seiner Dichtung nach idealen Verkörperungen deutschen Wesens: und fand als physischpsychisches Ideal den jungen Siegfried, als geistiges Ideal den alten Faust.
Will das deutsche Volk Höherentwicklung, so muß esseine Ideale revidieren: seine Tatkraft muß die militärische Einseitigkeit sprengen und sich weiten zu politisch-menschlicher Vielseitigkeit; sein Geist muß die reinwissenschaftliche Engesprengen und sich weiten zur Synthese des Dichter-Denkers.
Das neunzehnte Jahrhundert hat dem deutschen Volke zwei Männer größten Stiles geschenkt, die diese Forderungen höheren Deutschtums verkörperten: Bismarck, den Heros der Tat; Goethe, den Heros des Geistes.
Adelsdämmerung
Im Verlaufe der Neuzeit wurde der Blutadel durch die Hof – Atmosphäre, der Geistesadel durch den Kapitalismus vergiftet. Seit dem Ende der Ritterzeit befindet sich der Hochadel des kontinentalen Europa, mit spärlichen Ausnahmen, im Zustande progressiver Dekadenz.
Der Absolutismus änderte diese Situation: der oppositionelle Adel, der, frei, stolz und tapfer, auf seine historischen Rechte bestand, wurde, soweit es ging, ausgerottet; der Rest wurde an den Hof gezogen und dort in eine glänzende Knechtschaft gedrängt. Dieser Hofadel war unfrei, abhängig von den Launen des Herrschers und seiner Kamarilla; so mußte er seine besten Eigenschaften verlieren: Charakter, Freiheitsdrang, Stolz, Führerschaft.
Nur in jenen Ländern Europas, wo der Adel, seiner ritterlichen Mission treu, Führer und Vorkämpfer der nationalen Opposition gegen monarchischen Despotismus und Fremdherrschaft blieb, erhielt sich ein adeliger Führertypus: in England, Ungarn, Polen, Italien.
Der Hirnadel konnte den Blutadel nicht ablösen, weil auch er sich in einer Krise, in einem Verfallzustand befindet. Demokratie entstand aus Verlegenheit: nicht deshalb, weil die Menschen keinen Adel wollten, sondern deshalb, weil sie keinen Adel fanden. Sobald sich ein neuer, echter Adel konstituiert, wird Demokratie von selbst verschwinden. Weil England echten Adel besitzt, blieb es, trotz seiner demokratischen verfassung, aristokratisch.
Der akademische Hirnadel Deutschlands, vor einem Jahrhundert Führer der Opposition gegen Absolutismus und Feudalismus, Vorkämpfer moderner und freiheitlicherIdeen, ist heute zur Hauptstütze der Reaktion, zum Hauptgegner geistiger und politischer Erneuerung herabgesunken.
Dieser Pseudo-Geistesadel Deutschlands war im Kriege Anwalt des Militarismus, in der Revolution Verteidiger des Kapitalismus. Seine Leitworte: Nationalismus, Militarismus, Antisemitismus, Alkoholismus, sind zugleich die Losungsworte im Kampfe wider den Geist.Ihre verantwortungsreiche Mission: den Feudaladel abzulösen und den Geistesadel vorzubereiten, hat die akademische Intelligenz verkannt, verleugnet, verraten.
Auch die publizistische Intelligenz hat ihre Führermission verraten. Sie, die berufen war, geistige Führerin und Lehrerin der Massen zu werden, zu ergänzen und zu verbessern, was ein rückständiges Schulsystem versäumt und verbrochenhat – erniedrigte sich in ihrer ungeheuren Mehrheit zur Sklavin des Kapitals, zur Verbildnerin des politischen und künstlerischen Geschmackes.
Ihr Charakter zerbrach unter dem Zwang, statt eigener Überzeugungen fremde zu vertreten und zu verteidigen – ihr Geist verflachte durch die Überproduktion, zu der ihr Beruf sie zwingt.
Wie der Rhetor der Antike, so steht der Journalist der Neuzeit im Zentrum der Staatsmaschine: er bewegt die Wähler, die Wähler die Abgeordneten, die Abgeordneten die Minister. So fällt dem Journalisten die höchste Verantwortung für alles politische Geschehen zu: und gerade er, als typischer Vertreter urbaner Charakterlosigkeit, fühlt sich meist von jeder Verpflichtung und Verantwortung frei.
Schule und Presse sind die beiden Punkte, von denen aus die Welt sich unblutig, ohne Gewalt erneuern und veredeln ließe.
Die Schule nährt oder vergiftet die Seele des Kindes; die Presse nährt oder vergiftet die Seele des Erwachsenen. Schule und Presse sind heute beide in den Händen einer ungeistigen Intelligenz: sie in die Hände des Geistes zurückzulegen, wäre die höchste Aufgabe jeder idealen Politik, jeder idealen Revolution.
Geistesherrschaft statt Schwertherrschaft
Unser demokratisches Zeitalter ist ein klägliches Zwischenspiel zwischen zwei großen aristokratischen Epochen: der feudalen Aristokratie des Schwertes und der sozialen Aristokratie des Geistes.
Die Feudalaristokratie ist im Verfall, die Geistesaristokratie im Werden. Die Zwischenzeit nennt sich demokratisch, wird aber in Wahrheit beherrscht von der PseudoAristokratie des Geldes.
Im Mittelalter herrschte in Europa der rustikale Ritter über den urbanen Bürger, heidnische Mentalität über christliche, Blutadel über Hirnadel. Die Überlegenheit des Ritters über den Bürger beruhte auf Körper- und Charakterstärke, auf Kraft und Mut.
Zwei Erfindungen haben das Mittelalter bezwungen, die Neuzeit eröffnet: die Erfindung des Pulvers bedeutete das Ende der Ritterherrschaft, die Erfindung des Buchdrucks den Anbruch der Geistesherrschaft.
Körperkraft und Mut verloren durch die Einführung der Feuerwafle ihre ausschlaggebende Bedeutung im Daseinskampf: Geist wurde, im Ringen um Macht und Freiheit, zur entscheidenden Waffe
Europas Masseelend
Durch die Bevölkerungzunahme wird die Lage des Europäers immer verzweifelter; trotz aller bisherigen Fortschritte der Technik befindet er sich noch in einem recht erbärmlichen Zustande.
Die Gespenster des Hungers und des Erfrierens hat er zurückgedrängt – aberum den Preis seiner Freiheit und seiner Muße. Die furchtbare Zwangsarbeit beginnt für den Europäer im siebenten Lebensjahr mit dem Schulzwange und endet gewöhnlich erst mit dem Tode.
Seine Kindheit wird vergiftet durch die Vorbereitung zum Lebenskampfe, der in den folgenden Jahrzehnten seine ganze Zeit und Persönlichkeit, seine Lebenskraft und Lebensfreude verschlingt. Auf Muße steht Todesstrafe; der vermögenslose Durchschnittseuropäer steht vor der Wahl: entweder bis zur Erschöpfung zu arbeiten oder samt seinen Kindern zu verhungern.
Die Hungerpeitsche treibt ihn an, trotz Erschöpfung, Ekel und Erbitterung weiterzuarbeiten. Die europäischen Völker haben zwei politische Versuche unternommen, diesen erbärmlichenZustand zu verbessern: Kolonialpolitik und Sozialismus.
Kolonialpolitik
Die erste Form der Kolonialpolitik besteht in der Eroberung und Besiedelung dünnbevölkerter Erdstriche durch Nationen, die an Übervölkerung leiden. Die Auswanderung ist tatsächlich imstande, Länder vor Übervölkerung zu retten und Menschen, denen das europäische Gedränge unerträglich wird, ein freies und menschenwürdigesDasein zu sichern. Die Auswanderung bietet noch vielen Menschenmillionen einen Ausweg aus der europäischen Hölle und sollte daher auf jede Weise gefördert werden. –
Die zweite Form der Kolonialpolitik beruht auf Ausbeutung wärmerer Erdstriche und farbiger Völker. Menschen südlicher Rassen werden durch europäische Kanonen und Gewehre aus ihrer goldenen Muße aufgescheucht und gezwungen, im Dienste Europas zu arbeiten. Der ärmere, aber stärkere Norden plündert systematisch den reicheren aber schwächeren Süden; er raubt ihm Reichtum, Freiheit und Muße und verwendet diesenRaub zur Mehrung des eigenen Reichtums, der eigenen Freiheit und der eigenen Muße.
Sozialpolitik
Den zweiten Versuch, das europäische Massenelend zu lindern, unternimmt der Sozialismus. Der Sozialismus will die europäische Hölle bannen durch gleichmäßige Verteilung der Arbeitslast und des Arbeitsertrages.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich das Los der europäischen Massen durch vernünftige Reformen wesentlich verbessern ließe. Wenn aber der soziale Fortschritt nicht getragen wird durch einen Aufschwung der Technik, kann er das soziale Elend nur lindern, nicht beheben.
Denn die Arbeitslast, die zur Fütterung und Wärmung der vielzuvielen Europäer nötig ist, ist groß; der Arbeitsertrag, den das rauhe und nicht genügend fruchtbare Europa auch bei intensivster Ausnützung abwirft, relativ klein, so daß auch bei gerechtester Verteilung auf jeden Europäer sehr viel Arbeit und sehr wenig Lohn fiele.
Beim heutigen Stande der Technik würde sich das Leben in einem sozialistischen Europa in die Doppeltätigkeit auflösen: arbeiten um zu essen und essen um zu arbeiten. Das Gleichheitsideal wäre erreicht: aber von Freiheit, Muße und Kultur wäre Europa ferner denn je.
Um die Menschen zu befreien, ist Europa einerseits zu barbarisch, andererseits zu arm. Das Vermögen der wenigen Reichen, auf alle verteilt, würde spurlos verschwinden: die Armut wäre nicht abgeschafft, sondern verallgemeinert. Der Sozialismus ist allein nicht imstande, Europa aus seiner Unfreiheit und seinem Elend zu Freiheit und Wohlstand zu führen.
Technische Weltrevolution
Der koloniale Imperialismus ebenso wie der Sozialismus sind Palliative, nicht Heilmittel der europäischen Krankheit; sie können die Not lindern, nicht bannen; die Katastrophe aufschieben, nicht verhüten.
Europa wird sich entscheiden müssen, entweder seine Bevölkerung zu dezimieren und Selbstmord zu begehen – oder durch großzügige Steigerung der Produktion und Vervollkomnung der Technik zu genesen. Denn nur dieser Weg kann die Europäer zu Wohlstand,
Muße und Kultur führen, während die sozialenund kolonialen Rettungswege schließlich in Sackgassen münden. Europa muß sich darüber klar sein, daß der technische Fortschritt ein Befreiungskrieg allergrößten Stiles ist gegen den härtesten, grausamsten und unbarmherzigsten Tyrannen: die nordische Natur.
Von dem Ausgange dieser technischen Weltrevolution hängt es ab, ob die Menschheit die sich einmal in Äonen bietende Gelegenheit: Herrin über die Natur zu werden – nützt, oder ob sie diese Gelegenheit, vielleicht für immer,ungenützt vorüber gehen läßt.
Der Erfinder als Erlöser
In unserer europäischen Geschichtsepoche ist der Erfinder ein größerer Wohltäter der Menschheit als der Heilige. Der Erfinder des Automobils hat mehr Gutes für die Pferde getan und ihnen mehr Leiden erspart als sämtliche Tierschutzvereine der Welt.
- Das Kleinauto ist im Begriffe, Tausende von ostasiatischen Kulis aus ihrem Zugtierdasein zu erlösen.
- Die Erfinder des Diphterie – und Blatternserums haben mehr Kinderndas Leben gerettet, als alle Säuglingsheime.
- Die Galeerensklaven verdanken der neuzeitlichen Schiffstechnik ihre Befreiung, während durch
- die Einführung der Petroleumfeuerung die moderne Technik die Schiffsheizer aus ihrem Höllenberufe zu erlösen beginnt.
- Der Erfinder, der, etwa durch Atomzertrümmerung, einen praktischen Kohlenersatz schafft – wird für die Menschheit mehr geleistet haben als der erfolgreichste soziale Reformator: denn er wird die Millionen Kohlenarbeiter aus ihrem menschenunwürdigen Dasein erlösen und einen großen Teil der menschlichen Arbeitslast tilgen –
- während heute kein kommunistischer Diktator es vermeiden könnte, Menschen zu jenem unterirdischen Grubenleben zu verurteilen.
- Der Chemiker, dem es gelingt, Holz genießbar zu machen, würde die Menschheit aus dem Sklavenjoche des Hungers befreien, das sie länger und grausamer drückt als jede menschliche Gewaltherrschaft.
– Weder Ethik, noch Kunst, noch Religion, noch Politik werden den paradiesischen Fluch tilgen, – sondern Technik.
Es ist das Kulturziel der Technik einst allen Menschen die Lebensmöglichkeiten zu bieten, über die heute jene Millionäre verfügen. Deshalb kämpft die Technik gegen die Not – nicht gegen den Reichtum; gegen Knechtschaft – nicht gegen Herrschaft. Ihr Ziel ist Verallgemeinerung des Reichtums, der Macht, der Muße, der Schönheit und des Glückes: nicht Proletarisierung, sondern Aristokratisierung der Menschheit.
Heroischer Pazifismus
Das Paradies der Zukunft läßt sich nicht durch Putsche erschleichen – es läßt sich nur durch
Arbeit erobern.
Der Geist des technischen Zeitalters ist heroisch-pazifistisch: heroisch, weil Technik Krieg mit verändertem Objekt ist – pazifistisch weil sich sein Kampf nicht gegen Menschen richtet, sondern gegen Naturgewalten.
– Das technische Heldentum ist unblutig: der technische Held arbeitet, denkt, handelt, wagt und duldet, nicht um seinen Mitmenschen nach dem Leben zu trachten, sondern um sie aus dem Sklavenjoch von Hunger, Kälte, Not und Zwangsarbeit zu erlösen.
Der Held des technischen Zeitalters ist ein friedlicher Held der Arbeit und des Geistes. – Die Arbeit des technischen Zeitalters ist Askese: Selbstbeherrschung und Entsagung.
Der Geist der Trägheit
Im Zeitalter der Arbeit und Technik gibt es kein größeres Laster als Trägheit – wie es im Zeitalter des Krieges kein größeres Laster als Feigheit gibt.
Die Überwindung der Trägheit ist die Hauptaufgabe des technischen Heroismus.
Wo das Leben sich als Energie manifestiert – steht die Trägheit im Zeichen des Todes. Der Kampf des Lebens gegen den Tod ist ein Kampf der Tatkraft gegen die Trägheit.
Der Sieg des Todes über das Leben ist ein Sieg der Trägheit über die Tatkraft. Die Boten des Todes sind Alter und Krankheit: in ihnen gewinnt die Trägheit Übermacht über die Lebensenergie: Züge, Glieder, Bewegungen werden schlaff und hängend, Lebenskraft, Lebensmut und Lebensfreude sinken, alles neigt sich zur Erde, wird müde und träge – bis der Mensch, der nicht mehr vorwärtsschreiten und sichnicht mehr aufrechthalten kann, als Opfer der Trägheit ins Grab sinkt: dort triumphiert die Trägheit über das Leben.