Das Neuronennetz des Menschen

Man schätzt momentan, dass der Mensch etwa 100 Milliarden Neuronen (Nervenzellen) besitzt und dass er etwa 10- bis 50-mal mehr Gliazellen als Neuronen hat.

Eine Nervenzelle hat mehrere Verlängerungen und Verzweigungen ihres Zellkörpers. Diese Verlängerungen werden Dendrite und Axone genannt. Eine Nervenzelle empfängt Eingangssignale von mehreren Dendriten und sendet sein Ausgangssignal in Abhängigkeit der empfangenen Signale meist nur über ein Axon.

Das Axon kann bis zu 1 m lang sein und kann sich am Ende bis zu 10000 Axonkollateralen verzweigen, um das Ausgangssignal an mehrere Nerven- oder Körperzellen gleichzeitig weiter zu leiten.
Dendrite sind nur für den Empfang von Signalen von anderen Nervenzellen oder Gewebszellen vorgesehen. Die Eingangssignale können die Zelle zum Senden eines Signals anregen oder dämpfen.

Jede Nervenzelle kann bis zu 100000 Dendriten und bis zu 10000 Axonkollateralen ausbilden. Neuronen beherrschen aufgrund ihrer synaptischen Eingänge auch die drei Grundrechenarten: addieren, subtrahieren und multiplizieren. Man spricht von Konvergenzschaltung, wenn ein Neuron über mehrere Synapsen Eingänge verarbeitet, und von Divergenzschaltung, wenn dieses Neuron das Ergebnis der Verarbeitung über Axonkollaterale an andere Neurone weitergibt.

Der Einfluss der Gliazellen auf die Funktion des synaptischen Spaltes ist noch nicht ausreichend erforscht. Jede einzelne Nervenzelle entscheidet, aufgrund der erhaltenen Signale, ob sie ein Signal sendet oder nicht. Eine Nervenzelle sendet sein elektrisches  Ausgangssignal über sein Axon bis zu seinen synaptischen Spalten aller Axonkollateralen. Dort wird das Signal durch Neurotransmitter an die kontaktierte Zelle übertragen. Es gibt verschiedene Varianten von Synapsen mit unterschiedlichen Neurotransmitter, die unterschiedliche Informationskodierungen darstellen.

Unser Nervensystem ist ein riesiges Geflecht aus Milliarden solcher miteinander verbundenen Nervenzellen (Neuronen) und Gliazellen.  Die Eingangsinformationen von den Milliarden Rezeptoren unserer Sinne und anderer Rezeptoren in unserem Körper werden durch das Nervengeflecht der beteiligten Neuronen und Gliazellen geleitet und werden in immer höheren Schichten unseres Gehirn verabeitet und weiter verdichtet, bis sie in einer Anzahl von höchsten Bedeutungen für unser Sein landen, die möglichst nur 7+-2 Informationseinheiten darstellen. Diese Summe an höchsten Bedeutungen führen automatisch in eine beste vorbestimmte Reaktion des Gesamtsystems entsprechend unseren früher gemachten Erfahrungen und Erkenntnissen.

Bevor auf diese höchste Bedeutung reagiert wird, wird sie der Erlebnisentität bewusst gemacht. Jetzt ist uns erst bewusst, was wir im Moment erleben. Die Erlebnisentität hat jetzt die Möglichkeit die angebotene Bedeutung und Reaktion zu akzeptieren, dann wird die dazu direkt verschaltete Reaktion ausgeführt. Die Erlebnisentität kann sich aber auch gegen seine bisherige Erfahrung entscheiden und spontan eine abweichende Bewertung versuchen, die dann in einer etwas abweichenden Reaktion enden würde. Entsprechend der direkten Vernetzung zu den Bewegungsprogrammen werden die Prozesse der entsprechenden Muskelgruppen angesteuert, um gelerntes Verhalten zu realisieren.

Dieser Regelkreis läuft wahrscheinlich zwei bis viermal in der Sekunde ab. Neue Vernetzungen kann es nur in einer Nachbetrachtung von ausgeführten Reaktionen geben, die nicht zufrieden stellend von der Erlebnisentität erlebt wurden. Diese Nachbetrachtung nennen wir Nachdenken.

Nach heutiger wissenschaftlicher Vorstellung ist unser ganzes Verhalten, sowohl der unbewusste, wie auch der bewusste Teil und unser ganzes Wissen, einschließlich unseres Weltbildes und Selbstbildes in diesem Geflecht von Nervenzellen mit ihren Dendriten, Axonen, verschiedenen Synapsen und Gliazellen kodiert. Lernen von neuen Erfahrungen hat immer eine Veränderung dieses Geflechts zur Folge.

Die Vernetzung unserer Neuronen repräsentiert das gesamte individuelle Wissen und die gesamte individuelle Erfahrung unserer Erlebnisentität. Dies ist das Gedächtnis der Erlebnisentität. Unser Gedächtnis ist nur Erkenntnisspeicher, kein Denker.

Zur Kodierung der Gedächtnisinhalte in diesem Geflecht gibt es drei Maßnahmen.

Unter Frischzellen versteht man die Produktion neuer Neurone durch die Teilungsfähigkeit von Stammzellen im Hippokampus. Neue Neuronen werden benötigt um alte, defekte zu ersetzen oder um neue Erkenntnisse durch höhere Strukturen optimal in diesem Geflecht abzubilden. Untersuchungen eines chinesisch amerikanischen Forscherteams unter Leitung von Veronica Kwok an Erwachsenen haben gezeigt, dass durch das Lernen von neuen Wortschöpfungen und deren Zuordnungen zu spezifischen Farbtönen, einen Volumenzuwachs im Sehzentrum innerhalb von knapp zwei Stunden nachzuweisen war. Wenn ein Volumenzuwachs zu verzeichnen war, müssen schon einige neue Neuronen in das Sehzentrum integriert worden sein. Es ist sicher sinnvoll davon auszugehen, dass die Integration eines einzelnen Neurons nicht länger als eine Stunde dauern wird und vorbereitete Neuronen immer parat stehen.

Unter Vernetzung versteht man die Ausbildung neuer Dendriten und Axonkollateralen von integrierten Neuronen und deren Verknüpfungen zu anderen Neuronen. Dies wird weniger Zeit in Anspruch nehmen als die Integration von neuen Neuronen.

Unter Bahnung versteht man die Verstärkung (Potenzierung) vorhandener alter Synapsen innerhalb weniger Sekundenbruchteile. Dabei wird durch äußere Stimuli (Eingangsinformationen) die Signalübermittlung zwischen Neuronen verstärkt. Eine Dämpfung ist natürlich auch möglich. Hiermit werden schnelle Anpassungen vorgenommen, die je nach Erfahrung nur für Sekunden, Tage oder für Monate bestehen bleiben können.

Ob Bahnung, Vernetzung oder Frischzellen zur Kodierung von Inhalten eingesetzt wird, hat vielleicht auch etwas damit zu tun, wie stabil die entsprechenden Inhalte angesehen wurden, was vielleicht etwas mit der Häufigkeit der Verwendung dieser Strukturen zu tun hat. Bei Bahnung werden die entsprechenden Inhalte wahrscheinlich wieder schneller vergessen, wenn sie nicht regelmäßig aufgefrischt werden. Dies bedeutet, dass die Bahnung altern kann. Der Abbau von Dendriten und Axonkollateralen wird sicher nicht so schnell geschehen. Mit Frischzellen werden wohl nur die sichersten Erkenntnisse und wichtigsten Erfahrungen als stabile Struktur abgebildet, was man dann als Langzeitgedächtnis bezeichnet.

Unser ganzes Leben ist in diesen vernetzten Nervenzellen enthalten, die zentral im Gehirn gebündelt sind. Deshalb spricht man auch vom Zentralnervensystem, wenn man die Strukturen im Gehirn und im Rückenmark betrachtet. Diese zentrale Struktur verzweigt sich im Körper in das periphere Nervensystem, welches man wiederum in das somatische und das vegetative Nervensystem aufteilt.

Das vegetative Nervensystem ist in der Hauptsache mit der unbewussten Steuerung des Stoffwechselsystems beschäftigt. Das somatische Nervensystem ist der Teil des Nervensystems, das uns über unsere Sinne die Umwelt erleben lässt und über andere Rezeptoren unseren Körper im Raum darstellt. Mit ihm können wir durch bewusstes Wollen mit unserer Umwelt kommunizieren. Dies geschieht immer mit Hilfe von Muskelaktivitäten. Ohne bewusste Muskelaktivitäten erscheinen wir für andere im Wachkoma.

Mit der Neurogenese im Mutterleib ist die Produktion der Neurone in unserem Gehirn noch keineswegs abgeschlossen. Im erwachsenen Gehirn entstehen ständig in bestimmten Bereichen des Telencephalon (Riechhirn) neue neuronale Vorläuferzellen, die in die Riechkolben einwandern und in Schaltkreise einbezogen werden, die möglicherweise auch dem Erlernen neuer Düfte dienen.

Auch im Hippokampus, einer für Lernprozesse wichtigen Struktur des Telencephalon, entstehen täglich neuronale Vorläuferzellen und wachsen zu Neuronen heran, die einerseits für die Plastizität, Lernfähigkeit und Kreativität des Gehirns mitverantwortlich sind und dabei das Gehirn mit Frischzellen versorgen. Sie werden an Orte verbracht, an denen sie gebraucht werden, weil alte Nervenzellen absterben, z.B. nach einem Schlaganfall oder weil Erkenntnisse in das Langzeitgedächtnis gebracht werden müssen, weil sie sich als sehr stabil erwiesen haben. Anlässlich eines Schlaganfalls soll die Zellteilungsrate im Hippokampus erhöht sein. Neue Nervenzellen sind leichter zu erregen als alte. Sie reagieren empfindlicher auf entsprechende Reize.

Neuronale Vorläuferzellen finden sich in fast allen Teilen des Gehirns. Rätselhafterweise scheinen diese Zellen oft in einer Art Dornröschenschlaf zu verharren. Kein Hirnforscher weiß zur Zeit, ob, wozu und unter welchen Umständen sie aus diesem Stadium geweckt werden können. Ich behaupte, dass sie für neue Erkenntnisse in diesen Bereichen bereit stehen. Allerdings gibt es zu viele Bereiche des menschlichen Lebens, bei denen keine Evolution mehr stattfindet, es passiert nichts neues mehr und deshalb müssen keine neuen Neuronen eingefügt werden. Wir wiederholen dann nur noch Bekanntes, wir sind zu konservativ.

Eine gestörte Neuronenproduktion im Hippokampus, etwa unter dem Einfluss von Dauerstress, Rauchen, starker Alkoholkonsum und andere Drogen wird heute mit verschiedenen Krankheitsbildern in Zusammenhang gebracht, z.B. den endogenen Depressionen.
Im täglichen Leben ist der Neuronennachschub positiv korreliert mit der Evolution unserer geistigen und körperlichen Fähigkeiten und durch immer neue soziale Kontakte. Sobald diese Aktivitäten fehlen, versiegt auch diese Neurogenese. Evolution wird durch positives Erleben belohnt. Stoppt unsere persönliche Evolution, dann werden wir depressiv, weil wir nicht mehr das oberste Ziel unserer Erlebnisentität verfolgen.